Erschütterung des Beweiswerts von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen – Ein wegweisendes Urteil des BAG

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Die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AU-Bescheinigung) ist im deutschen Arbeitsrecht seit jeher ein zentrales Dokument. Arbeitnehmer nutzen sie, um ihren Anspruch auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zu untermauern, und Arbeitgeber setzen darauf, dass sie den Gesundheitszustand des Mitarbeiters korrekt widerspiegelt. Doch was geschieht, wenn der Verdacht entsteht, dass eine AU-Bescheinigung nicht den tatsächlichen Gegebenheiten entspricht? Mit seinem Urteil vom 13. Dezember 2023 (Az.: 5 AZR 137/23) hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) neue Maßstäbe für den Umgang mit solchen Konstellationen gesetzt und die Rechte von Arbeitgebern gestärkt.

Wann verliert eine AU-Bescheinigung ihren Beweiswert?

Die zentrale Frage des Urteils lautete: Unter welchen Voraussetzungen kann der Beweiswert einer AU-Bescheinigung erschüttert werden? Das BAG hat klargestellt, dass eine AU-Bescheinigung nicht unantastbar ist. Insbesondere dann, wenn sie die Dauer der Kündigungsfrist exakt abdeckt und der Arbeitnehmer direkt nach Ablauf der Frist ein neues Arbeitsverhältnis aufnimmt, kann dies Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Bescheinigung aufkommen lassen. Arbeitgeber sind in solchen Fällen berechtigt, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zu verweigern, sofern sie die Zweifel substantiiert darlegen können.

Welche rechtlichen Grundlagen spielen eine Rolle?

Grundlage dieser Entscheidung sind die allgemeinen Beweisregeln im Zivilprozessrecht, die auch im Arbeitsrecht Anwendung finden. Gemäß § 286 ZPO (freie Beweiswürdigung) ist der Richter nicht an formale Beweisregeln gebunden, sondern kann die Glaubhaftigkeit einer AU-Bescheinigung eigenständig bewerten. Das BAG hat diese Grundsätze konkretisiert und verdeutlicht, dass eine AU-Bescheinigung lediglich eine Vermutungswirkung entfaltet, die durch konkrete Umstände widerlegt werden kann.

Welche Konsequenzen hat das Urteil für Arbeitnehmer und Arbeitgeber?

Arbeitnehmer müssen sich darauf einstellen, dass Arbeitgeber ihre AU-Bescheinigungen kritisch hinterfragen können, insbesondere wenn Umstände vorliegen, die Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit begründen. Arbeitgeber hingegen haben nun ein stärkeres Instrument, um gegen potenziellen Missbrauch vorzugehen. Sie sollten jedoch beachten, dass sie die Erschütterung des Beweiswerts detailliert begründen müssen. Bloße Vermutungen oder pauschale Anschuldigungen reichen nicht aus.

Wie beweist ein Arbeitgeber die Erschütterung des Beweiswerts?

Das BAG hat in seinem Urteil klare Vorgaben für den Nachweis formuliert. Arbeitgeber müssen darlegen, dass die Umstände des Einzelfalls auf eine missbräuchliche Verwendung der AU-Bescheinigung hindeuten. Beispiele hierfür sind:

  • Eine AU-Bescheinigung, die zeitlich exakt die Kündigungsfrist abdeckt.
  • Die unmittelbare Aufnahme einer neuen Tätigkeit nach Ablauf der Frist.
  • Zusätzliche Hinweise, die den Verdacht erhärten, wie etwa öffentliche Aktivitäten des Arbeitnehmers, die einer Erkrankung widersprechen.

Was sagt die weitere Rechtsprechung zu diesem Thema?

Das Urteil reiht sich in eine Reihe von Entscheidungen ein, die die Bedeutung der AU-Bescheinigung im Arbeitsrecht beleuchten. Bereits in früheren Entscheidungen, wie z. B. dem Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamm (Az.: 18 Sa 1311/20), wurde deutlich gemacht, dass der Beweiswert einer AU-Bescheinigung bei widersprüchlichem Verhalten des Arbeitnehmers erheblich eingeschränkt sein kann.

Welche Pflichten haben Arbeitnehmer?

Arbeitnehmer sollten ihre Arbeitsunfähigkeit stets ehrlich und korrekt nachweisen. Bei Zweifeln seitens des Arbeitgebers kann es hilfreich sein, weitere ärztliche Atteste oder Dokumentationen vorzulegen, die die Erkrankung untermauern. Arbeitnehmer sind jedoch nicht verpflichtet, dem Arbeitgeber Diagnosen oder detaillierte Gesundheitsinformationen preiszugeben, da diese unter den Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 GG) fallen.

Welche Risiken birgt ein Missbrauch für Arbeitnehmer?

Der Missbrauch von AU-Bescheinigungen kann schwerwiegende Konsequenzen haben. Neben der Verweigerung der Lohnfortzahlung drohen arbeitsrechtliche Maßnahmen bis hin zur fristlosen Kündigung. In besonders schwerwiegenden Fällen kann auch eine strafrechtliche Verfolgung wegen Betrugs (§ 263 StGB) erfolgen.

Wie sollten Arbeitgeber in der Praxis vorgehen?

Arbeitgeber, die Zweifel an einer AU-Bescheinigung haben, sollten folgende Schritte beachten:

  1. Prüfung der Umstände: Dokumentieren Sie sorgfältig alle Hinweise, die Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit begründen.
  2. Dialog mit dem Arbeitnehmer: Klären Sie die Situation zunächst in einem Gespräch und geben Sie dem Arbeitnehmer die Möglichkeit zur Stellungnahme.
  3. Einschaltung des MDK: In Zweifelsfällen kann der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) zur Prüfung der Arbeitsunfähigkeit hinzugezogen werden (§ 275 SGB V).
  4. Rechtsberatung: Ziehen Sie bei Unsicherheiten einen Fachanwalt für Arbeitsrecht hinzu, um rechtliche Risiken zu minimieren.

Fazit und Handlungsempfehlungen

Das Urteil des BAG vom 13. Dezember 2023 setzt einen wichtigen Impuls für das deutsche Arbeitsrecht. Es zeigt, dass die AU-Bescheinigung nicht unantastbar ist und bei konkreten Zweifeln hinterfragt werden kann. Arbeitnehmer sollten sich bewusst sein, dass eine missbräuchliche Nutzung erhebliche Konsequenzen nach sich ziehen kann. Arbeitgeber hingegen haben nun eine klare Leitlinie, wie sie mit Zweifelsfällen umgehen können.

Für die Zukunft ist zu erwarten, dass weitere Gerichte die Kriterien zur Erschütterung des Beweiswerts konkretisieren werden. Es bleibt abzuwarten, ob der Gesetzgeber hier nachjustiert, um klare Regelungen zu schaffen und Streitigkeiten zu minimieren. Bis dahin ist beiden Seiten zu raten, im Zweifel professionellen juristischen Rat einzuholen, um ihre Rechte zu wahren und Konflikte möglichst einvernehmlich zu lösen.

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