Die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AU) gilt im deutschen Arbeitsrecht als ein bedeutendes Beweismittel für die Arbeitsunfähigkeit eines Arbeitnehmers. Ihr hoher Beweiswert wird durch die gesetzliche Vermutung getragen, dass eine ordnungsgemäß ausgestellte Bescheinigung auch die tatsächliche Arbeitsunfähigkeit nachweist. Doch diese Vermutung ist nicht unumstößlich. Mit seinen Urteilen vom 13. Dezember 2023 (Az. 5 AZR 137/23) und 18. September 2024 (Az. 5 AZR 29/24) hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) die Grenzen des Beweiswerts der Krankschreibung erneut konkretisiert und dabei bedeutende Signale an Arbeitnehmende und Arbeitgebende gesendet.
Die aktuelle Entscheidung des BAG vom 18. September 2024
Das Urteil vom 18. September 2024 (Az. 5 AZR 29/24) erweitert die Rechtsprechung zum Beweiswert der AU. In dem zugrunde liegenden Fall hatte ein Arbeitnehmer nach Erhalt der Kündigung mehrfach Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vorgelegt. Diese deckten die gesamte Kündigungsfrist ab. Zusätzlich wurde bekannt, dass der Arbeitnehmer während dieser Zeit berufliche Tätigkeiten ausführte. Der Arbeitgeber zweifelte daher die Glaubwürdigkeit der AU an und verweigerte die Fortzahlung des Entgelts.
Das BAG stellte fest, dass ein enger zeitlicher Zusammenhang zwischen der Kündigung und der Ausstellung der AU den Beweiswert erschüttern kann. Besondere Relevanz kommt dabei der Gesamtschau aller Umstände zu. Während das Landesarbeitsgericht (LAG) die Klage des Arbeitnehmers auf Lohnfortzahlung abwies, verwies das BAG die Sache zur erneuten Prüfung an das LAG zurück, um eine umfassendere Bewertung der Sachlage vorzunehmen.
Die vorhergehende Entscheidung vom 13. Dezember 2023
Bereits im Urteil vom 13. Dezember 2023 (Az. 5 AZR 137/23) hatte das BAG eine wegweisende Entscheidung getroffen. In diesem Fall legte ein Arbeitnehmer unmittelbar nach Zugang der Kündigung eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vor, die exakt bis zum letzten Tag der Kündigungsfrist datiert war. Das Gericht kam zu dem Schluss, dass eine solche „passgenaue“ Krankschreibung – insbesondere bei weiteren auffälligen Begleitumständen – den Beweiswert der AU erschüttern kann. Das BAG betonte jedoch, dass jeder Fall individuell zu prüfen sei und eine schematische Betrachtung unzulässig sei.
Die rechtlichen Grundlagen
Die gesetzliche Grundlage für die Beweiswirkung einer AU ergibt sich aus § 5 Abs. 1 Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG). Danach genügt es, dass Arbeitnehmende ihrer Anzeigepflicht genügen und dem Arbeitgeber die Arbeitsunfähigkeit durch eine Bescheinigung nachweisen. Doch dieser Nachweis ist nicht unumstößlich. Arbeitgeber können den Beweiswert der AU erschüttern, wenn konkrete Umstände vorliegen, die Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit begründen.
Das BAG knüpft diese Zweifel an besondere Umstände:
- Zeitlicher Zusammenhang: Ein enger zeitlicher Zusammenhang zwischen Kündigung und Krankschreibung ist ein typischer Indikator.
- Verhalten des Arbeitnehmers: Zusätzliche berufliche Tätigkeiten während der angeblichen Arbeitsunfähigkeit erschüttern den Beweiswert erheblich.
- Passgenaue Krankschreibungen: Eine AU, die exakt auf die Dauer der Kündigungsfrist abgestimmt ist, kann Zweifel wecken.
Praktische Konsequenzen für Arbeitnehmende
Die Entscheidungen des BAG sollten Arbeitnehmende sensibilisieren, sorgsam mit der Krankschreibung umzugehen. Wer nach einer Kündigung eine AU einreicht, sollte darauf achten, dass diese nicht durch widersprüchliches Verhalten entwertet wird. Insbesondere berufliche Aktivitäten während der angeblichen Arbeitsunfähigkeit können schwerwiegende Folgen haben.
Arbeitnehmende, die den Eindruck erwecken, ihre AU strategisch einzusetzen, riskieren nicht nur die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, sondern auch ein dauerhaft belastetes Arbeitsverhältnis oder arbeitsrechtliche Konsequenzen.
Handlungsempfehlungen für Arbeitgebende
Arbeitgebende sollten genau prüfen, ob Zweifel am Beweiswert einer AU bestehen. Insbesondere folgende Schritte sind empfehlenswert:
- Dokumentation auffälliger Umstände: Verdachtsmomente, wie ein zeitlicher Zusammenhang zwischen Kündigung und Krankschreibung, sollten genau dokumentiert werden.
- Anforderung weiterer Nachweise: Bei begründeten Zweifeln können Arbeitgeber den Medizinischen Dienst einschalten.
- Kommunikation mit dem Arbeitnehmer: Es ist ratsam, den Arbeitnehmer zur Klärung der Situation anzuhören, bevor rechtliche Schritte eingeleitet werden.
- Rechtliche Beratung einholen: Vor der Verweigerung der Entgeltfortzahlung sollte stets juristischer Rat eingeholt werden, um das Risiko einer arbeitsrechtlichen Auseinandersetzung zu minimieren.
Gesamtschau der Umstände als entscheidender Faktor
Das BAG hat betont, dass keine pauschale Regelung getroffen werden kann. Entscheidend ist stets eine Gesamtschau der Umstände. Dies umfasst die Beurteilung des zeitlichen Zusammenhangs, der Plausibilität der vorgelegten AU sowie der Glaubwürdigkeit des Arbeitnehmers. Arbeitgeber sollten daher sorgfältig abwägen, bevor sie den Beweiswert einer AU anzweifeln.
Fazit
Die Urteile des BAG zur Erschütterung des Beweiswerts von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen setzen deutliche Grenzen für potenziellen Missbrauch, betonen aber zugleich die Notwendigkeit einer differenzierten Betrachtung. Arbeitnehmer sollten die Tragweite einer AU nicht unterschätzen, während Arbeitgeber bei Zweifeln umsichtig vorgehen sollten. Letztlich unterstreichen die Entscheidungen die Bedeutung einer transparenten und vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen Arbeitnehmenden und Arbeitgebenden.